4. Was versteht man unter “gewöhnlicher Aufenthalt”?

Beispiel 1
Die oben genannte Vorschrift knüpft in erster Linie an den ständigen Aufenthalt der Beteiligten an und nur als Auffangtatbestand an deren Staatsangehörigkeit.

Die Feststellung, wo der ständige Aufenthalt eines Ehegatten ist, kann in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten bereiten.

Beispiel 1
Die Ehefrau ist Diplomatin und wird alle paar Jahre vom Auswärtigen Amt an eine andere Auslandsvertretung entsandt. Das Ehepaar hat eine dauerhafte Wohnung in Berlin und plant, nachdem die Ehefrau in den Ruhestand gegangen ist, dorthin zurückzukehren. Aktuell ist die Ehefrau an der Moskauer Botschaft tätig. Der Ehemann will sich scheiden lassen und fragt sich, in welchem Land er die Scheidung einreichen kann.

Beispiel 2
Der Ehemann ist Europaabgeordneter und lebt mit der Ehefrau überwiegend in Brüssel. Das Paar hat seine Wohnung in München beibehalten, ist dort gemeldet und hält sich dort an Feiertagen und bei Besuchen auf. Der Wahlkreis des Ehe- mannes ist in München.

In beiden Fällen stellt sich die Frage: Wo ist der ständige Aufenthalt des Paares? In Deutschland oder in Moskau bzw. Brüssel? Die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend dafür, bei welchem Gericht die Scheidung einzureichen ist und welches Recht auf die Scheidung zur Anwendung kommt.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 3 Abs. 1 Brüssel IIa-VO sind für die Beurteilung, wie der ständige Aufenthalt eines Ehepaares oder eines Ehegatten zu bestimmen ist, vor allem zwei Kriterien heranzuziehen:45
  • Zum einen der subjektive Wille, den gewöhnlichen Mitttelpunkt seiner Lebensinteressen an einen bestimmten Ort zu legen;
  • Zum anderen objektiv eine hinreichend dauerhafte Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Staates.

Maßgebend für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts ist vor allem der Wille des Betreffenden, in diesem Staat den ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in der Absicht zu begründen, ihm Beständigkeit zu verleihen. Eine Mindestdauer ist nicht vorgesehen, so dass die Dauer des Aufenthalts allenfalls als Indiz im Rahmen der Beurteilung der Beständigkeit dienen kann. Das Element der sozialen Integration tritt demgegenüber in den Hintergrund.46

Wie schwierig diese Frage zu beantworten ist und wie unsicher dementsprechend die Rechtslage für denjenigen ist, der sich bei dieser Fallgestaltung scheiden lassen will, lässt sich daran ermessen, dass nicht einmal der Bundesgerichtshof sich im oben genannten Beispiel 1 in der Lage gesehen hat, die Frage zu beantworten. Er hat die Entscheidung zur Bestimmung des ständigen Aufenthalts in diesem Fall vielmehr im Dezember 2023 dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Erst wenn der Europäische Gerichtshof dazu eine Entscheidung getroffen hat, wird zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts in Fällen dieser Art mehr Klarheit herrschen.