BGH, Urteil vom 25. November 1981 – IVb ZR 611/80.

Fußnote 98.
Fußnote 98 BGH, Urteil vom 25. November 1981 – IVb ZR 611/80

Gericht:

BGH 4b. Zivilsenat

Entscheidungsdatum:

25.11.1981

Rechtskraft:

ja

Aktenzeichen:

IVb ZR 611/80

Dokumenttyp:

Urteil


Quelle:

 

Norm:

§ 1603 Abs 1 BGB vom 11.08.1961

Zitiervorschlag:

BGH, Urteil vom 25. November 1981 – IVb ZR 611/80 –, juris



 

            Berücksichtigung von sonstigen Verbindlichkeiten bei der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen

 

Leitsatz

            1. Zur Berücksichtigung von sonstigen Verbindlichkeiten bei der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen.

Orientierungssatz

            1. Der Unterhaltspflichtige kann sich nicht auf sonstige Verbindlichkeiten berufen, die er leichtfertig, für luxuriöse Zwecke oder ohne verständlichen Grund eingegangen ist. Im Einzelfall kann die Abgrenzung, welche sonstigen Verbindlichkeiten bei der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen zu berücksichtigen sind, nur im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung nach billigem Ermessen erfolgen. Bedeutsame Umstände sind dabei insbesondere der Zweck der Verbindlichkeiten, der Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung, die Dringlichkeit der beiderseitigen Bedürfnisse, die Kenntnis des Unterhaltsverpflichteten von Grund und Höhe der Unterhaltsschuld, seine Möglichkeiten, die Leistungsfähigkeit in zumutbarer Weise ganz oder teilweise wieder herzustellen, und gegebenenfalls auch schutzwürdige Belange des Drittgläubigers.

Fundstellen
LM Nr 11 zu § 1603 BGB (Leitsatz 1 und Gründe)
NJW 1982, 380-​381 (Leitsatz 1 und Gründe)
MDR 1982, 472-​473 (Leitsatz 1 und Gründe)
FamRZ 1982, 157-​159 (Leitsatz 1 und Gründe)
ZfSH 1982, 247-​248 (Leitsatz 1 und Gründe)
BGHWarn 1981, Nr 269 (red. Leitsatz und Gründe)
Verfahrensgang
vorgehend OLG Oldenburg (Oldenburg), 2. November 1979, 11 UF 128/79
vorgehend AG Aurich, 15. Mai 1979, 11 F 169/78
Diese Entscheidung wird zitiert
Rechtsprechung
Anschluß OLG Karlsruhe Senat für Familiensachen, 22. November 2001, 16 WF 112/01
Vergleiche AG Salzgitter, 22. Mai 1987, 12 C 84/87
Vergleiche OLG Frankfurt 5. Senat für Familiensachen, 6. April 1987, 5 UF 187/82
Ergänzung OLG Oldenburg (Oldenburg) 12. Senat für Familiensachen, 25. März 1986, 12 UF 71/85
Festhaltung BGH 4b. Zivilsenat, 9. Mai 1984, IVb ZR 74/82
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Kommentare
Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-​BGB
● Clausius, 10. Auflage 2023, § 1581 BGB
● Viefhues, 10. Auflage 2023, § 1603 BGB
Staudinger, BGB
● Klinkhammer, § 1603 Leistungsfähigkeit; IV. (Erwerbs-​)Obliegenheiten und fiktive Einkünfte; leichtfertig herbeigeführte Leistungsunfähigkeit; 3. Verschuldete Leistungsunfähigkeit; b) Einzelfälle 2018
● Klinkhammer, § 1603 Leistungsfähigkeit; IV. (Erwerbs-​)Obliegenheiten und fiktive Einkünfte; leichtfertig herbeigeführte Leistungsunfähigkeit; 3. Verschuldete Leistungsunfähigkeit; b) Einzelfälle 2022
● Klinkhammer, § 1603 Leistungsfähigkeit; V. Berücksichtigung sonstiger Verpflichtungen (Schulden) und Kosten; 2. Verpflichtungen 2018
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Sonstiges
Münch, Die Unternehmerehe
● Christof Münch, § 9 Grundlagen der Unterhaltsberechnung; B. Voraussetzungen eines jeden Unterhaltsanspruchs; IV. Leistungsfähigkeit
Viefhues et al., Das familienrechtliche Mandat - Unterhaltsrecht
● Dr. K.-​Peter Horndasch, § 3 Ehegattenunterhalt; I. Rangverhältnisse und Mangelfall; III. Korrekturen zum Einkommen und zum Bedarf

Tenor

            Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 11. Zivilsenats - 3. Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 2. November 1979 aufgehoben.

            Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1           Der Kläger nimmt den Beklagten wegen gewährter Ausbildungsförderung aus übergeleitetem Recht auf Unterhaltszahlung in Anspruch.

2           Der 1950 geborene Sohn E des Beklagten begann nach Abschluß seines Wehrdienstes im Oktober 1971 das Studium des Bauwesens (Dipl.Ing.) an der Technischen Universität H, das er am 3. Mai 1978 abschloß. Der Kläger gewährte ihm Ausbildungsbeihilfe in Höhe von 1 848,48 DM in der Zeit von Oktober 1975 bis März 1976 und in Höhe von 3 044,16 DM in der Zeit von April 1976 bis September 1976. Unter dem 20. April 1976 übersandte er dem Beklagten eine entsprechende Rechtswahrungsanzeige und leitete den Unterhaltsanspruch des Geförderten mit Bescheid vom 15. Juni 1976 auf sich über.

3           Der Beklagte hatte im Jahre 1976 ein monatliches Durchschnittseinkommen von 2 647,97 DM netto. In seinem Haushalt leben seine zweite Ehefrau und das am 2. Juli 1974 geborene Kind T. Mitte 1975 faßte er den Plan, für sich und seine Familie ein Eigenheim zu bauen. Er erwarb ein Baugrundstück und ließ darauf ein Fertighaus errichten. In diesem Zusammenhang ging er Kreditverpflichtungen über insgesamt 230 000 DM ein, die im Mai 1976 einen Schuldabtrag von 1 020 DM und ab 1. Juni 1976 eine monatliche Belastung von 1 350 DM mit sich brachten. Ab Mitte 1975 stellte er die bisherigen monatlichen Zuwendungen von 120 DM an seinen studierenden Sohn ein und überließ ihm lediglich jeweils das Kindergeld von 50 DM und einen Betrag von 25 DM für die studentische Krankenkasse.

4           Mit der im April 1978 erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, den Beklagten zu verurteilen, an das Land Niedersachsen für gewährte Ausbildungsbeihilfe in der Zeit vom 1. Oktober 1975 bis 30. September 1976 insgesamt 4 892,64 DM zu zahlen. Der Beklagte berief sich darauf, vor Erlaß der Rechtswahrungsanzeige nicht in Verzug gesetzt worden zu sein; für die Zeit danach wendete er mangelnde Leistungsfähigkeit wegen der finanziellen Lasten des Hausbaus ein.

5           Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Klageanspruch in Höhe von 2 536,80 DM (für die Zeit vom 1. Mai 1976 bis 30. September 1976) weiter.

Entscheidungsgründe

6           Die Revision ist begründet.

7           1. Der Sohn E des Beklagten war in der Zeit von Mai bis September 1976 infolge seines Studiums unterhaltsbedürftig, § 1610 Abs. 2 BGB. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Beklagte sei in dieser Zeit wegen der finanziellen Belastung durch seinen Hausbau nicht leistungsfähig und daher nicht zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet gewesen, § 1603 Abs. 1 BGB. Die hierfür gegebene Begründung trägt jedoch die Entscheidung nicht.

8           2. Das Berufungsgericht hat im wesentlichen ausgeführt: Die im Zusammenhang mit der Errichtung eines Eigenheimes eingegangenen Kreditverpflichtungen hätten dem Beklagten im Mai 1976 lediglich ein Nettoeinkommen von ca. 1 500 DM und ab Juni 1976 ein solches von 1 300 DM monatlich belassen. Davon habe er seine zweite Ehefrau und sein minderjähriges Kind unterhalten müssen. Er sei daher nicht in der Lage gewesen, zu den Studienkosten seines Sohnes E mehr als die abgeführten 75 DM monatlich beizutragen. Es könne unterstellt werden, daß er die Kreditverbindlichkeiten erst nach Zugang der Rechtswahrungsanzeige des Klägers eingegangen sei; denn jedenfalls sei bereits zuvor das Fertighaus bestellt und mit der Fertigung der Bauteile begonnen worden, so daß der Beklagte sich unter zumutbaren Bedingungen nicht mehr von der Kaufverpflichtung habe lösen können. Zwar sei der tatsächlichen Inanspruchnahme auf Unterhalt gleich zu achten, wenn diese bestimmt zu erwarten sei. Der Beklagte habe aber bei Eingehung der Kreditverbindlichkeiten aufgrund der ihm bekannten Umstände nicht "bestimmt" damit zu rechnen brauchen, daß er auf Unterhalt für seinen studierenden Sohn in Anspruch genommen werde. In der Vergangenheit habe dieser wiederholt vom Kläger Förderungsmittel erhalten, ohne daß hierwegen Rückgriff auf den Beklagten genommen worden sei. Die allgemeine Kenntnis von der Tatsache, daß sein Sohn sich noch im Studium befunden habe, habe den Beklagten nicht veranlassen müssen, den Hausbau zurückzustellen. Daß er diesen in Angriff genommen habe, um sich arglistig seiner Unterhaltspflicht zu entziehen, lasse sich nicht feststellen.

9           3. Nach § 1603 Abs. 1 BGB sind bei der Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen dessen sonstige Verbindlichkeiten zu "berücksichtigen". Daraus wird im Schrifttum teilweise gefolgert, eine Unterscheidung zwischen berücksichtigungswürdigen Schulden und anderen finde im Gesetz keine Stütze (vgl. Köhler, Handbuch des Unterhaltsrechts 5. Aufl. Rdn. 111; Scheffler in BGB-​RGRK 10./11. Aufl. § 1603 Rdn. 11). Wenn Schulden zur Vereitelung der Unterhaltsverpflichtung eingegangen würden, könne mit dem Arglisteinwand (§ 242 BGB) geholfen werden, der allerdings bei lediglich unbedacht eingegangenen Verpflichtungen versage. Von einem überschuldeten Unterhaltsverpflichteten müßten lediglich besondere Anstrengungen und Abhilfemaßnahmen gefordert werden, die über das allgemein Zumutbare noch hinausgingen.

10         Die überwiegende Ansicht, der auch das Berufungsgericht gefolgt ist, stellt darauf ab, ob die Verbindlichkeiten vor oder nach der Inanspruchnahme auf Unterhalt eingegangen worden sind. Die davor eingegangenen seien auch dann zu berücksichtigen, wenn sie vermeidbar waren, die danach eingegangenen nur dann, wenn der Unterhaltspflichtige einen verständigen Grund dafür gehabt hatte oder wenn sie unumgänglich notwendig waren (BayObLGSt 1960, 167 = NJW 1961, 38; OLG Hamm FamRZ 1967, 175 und DAV 1978, 358; Soergel/Siebert BGB 10. Aufl. § 1603 Rdn. 9. Münch- Komm/Köhler BGB § 1603 Rdn. 18; Gernhuber, Familienrecht 3. Aufl. § 41 III 4). Dem wird entgegengehalten, daß die zeitliche Abgrenzung nicht in allen Fällen befriedigend sei, weil bei gesetzlichen Verbindlichkeiten (z.B. aus unerlaubter Handlung) der Entstehungszeitpunkt oft nicht beeinflußbar sei und weil die Eingehung einer rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeit wenige Tage vor der ohne weiteres voraussehbaren Inanspruchnahme auf Unterhalt weniger schutzwürdig sein könne als die Übernahme einer Schuld in Kenntnis der Unterhaltsverpflichtung (Brühl/ Göppinger/Mutschler, Unterhaltsrecht Band 1 4. Aufl. Rdn. 638). Palandt/Diederichsen (BGB 40. Aufl. § 1603 Anm. 3 b) stellen daher den nach Inanspruchnahme auf Unterhalt eingegangenen Verbindlichkeiten solche gleich, "die im Hinblick auf die bestimmt zu erwartende Inanspruchnahme unverständigerweise" eingegangen sind.

11          Kreditverbindlichkeiten für einen Hausbau wird vielfach entgegengehalten, der Unterhaltsschuldner könne nicht auf Kosten des Unterhaltsberechtigten sein Aktivvermögen mehren; teilweise werden die Aufwendungen in diesem Rahmen lediglich bis zur Höhe fiktiver Mietkosten berücksichtigt (OLG Düsseldorf DAV 1979, 423; LG Hamburg DAV 1976, 295; Brühl aaO Rdn. 635; a.A. wohl MünchKomm/ Köhler aaO).

12         Da es nicht der Sinn des Gesetzes sein kann, dem Unterhaltsschuldner die Möglichkeit zu geben, durch unverantwortliches oder eigensüchtiges Schuldenmachen seiner Unterhaltspflicht zu entgehen, ist der Meinung nicht zu folgen, § 1603 Abs. 1 BGB verbiete die Differenzierung zwischen berücksichtigungswürdigen und anderen Verbindlichkeiten. Es ist auch zu eng und verhilft in vielen Fällen nicht zu einer befriedigenden Lösung, nur den Einwand der Arglist (§ 242 BGB) bei einer festgestellten oder unter bestimmten Voraussetzungen zu vermutenden Benachteiligungsabsicht zuzulassen. Da jede Rechtsposition unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben steht, kann sich der Unterhaltspflichtige nicht auf Verbindlichkeiten berufen, die er leichtfertig, für luxuriöse Zwecke oder ohne verständigen Grund eingegangen ist. Im Einzelfall kann die Abgrenzung nur im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung nach billigem Ermessen erfolgen, wobei die in der Rechtspraxis bereits entwickelten Maßstäbe brauchbare Ansatzpunkte abgeben. Bedeutsame Umstände sind insbesondere der Zweck der Verbindlichkeiten, der Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung, die Dringlichkeit der beiderseitigen Bedürfnisse, die Kenntnis des Unterhaltsverpflichteten von Grund und Höhe der Unterhaltsschuld, seine Möglichkeiten, die Leistungsfähigkeit in zumutbarer Weise ganz oder teilweise wieder herzustellen, und gegebenenfalls auch schutzwürdige Belange des Drittgläubigers (ähnlich Staudinger/Gotthardt BGB 10./11. Aufl. § 1603 Rdn. 27; BayObLGSt aaO; Brühl aaO Rdn. 639).

13         4. Das Berufungsurteil läßt die danach gebotene umfassende Interessenabwägung vermissen und kann daher keinen Bestand haben. Die Revision rügt zu Recht, daß nicht entscheidend sein kann, ob der Beklagte zu dem Zeitpunkt, als er den Plan zum Bau seines Eigenheimes ins Werk setzte, "bestimmt" oder nur "allgemein" mit einer Inanspruchnahme durch den Kläger hat rechnen müssen. Von dem Vater eines studierenden Sohnes kann im allgemeinen verlangt werden, daß er auf dessen Unterhaltsbedürftigkeit bis zum Abschluß der Ausbildung Rücksicht nimmt, bevor er seine Leistungsfähigkeit erschöpfende Verbindlichkeiten eingeht. Das Vertrauen auf eine in der Vergangenheit gewährte öffentliche Ausbildungsbeihilfe ist nicht schutzwürdig, sofern ohne besondere Erkundigungen davon ausgegangen wird, sie werde auch in Zukunft ohne Rückgriff gewährt werden. Indessen reichen die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts für eine abschließende Beurteilung nicht aus. Der Hausbau hat nach der Geburt des Sohnes T im Jahre 1974 der Befriedigung des Wohnbedürfnisses des Beklagten und seiner Familie gedient und nicht so sehr der Bildung von Vermögensreserven. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang Beweis dafür angeboten, daß seine frühere Mietwohnung für ein Ehepaar mit Kind zu klein und ungeeignet gewesen sei und daß er eine kindergerechte andere Mietwohnung zu angemessenen Bedingungen nicht habe erlangen können (Schriftsatz vom 10.9.79). Diese Beweisangebote sind für die Frage der Dringlichkeit und Unaufschiebbarkeit des Hausbaus erheblich. Die Sache muß daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, damit dieses nach Erhebung der angebotenen Beweise die fehlenden Feststellungen trifft. Je nach dem Ergebnis der erneuten Würdigung wird es auch zu prüfen haben, ob der Beklagte nicht wenigstens teilweise zum Unterhalt seines Sohnes beitragen konnte.